Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 16


„Kann der auch normal tanzen?“
(Frage an eine Tangofreundin zu meiner Person)

Wie schön, die Artikel in dem Berliner „Dreimäderlhaus“ („Berlin Tango Vibes“) werden zunehmend besser! Und natürlich bin ich weit davon entfernt, dies für eine Folge meiner kritischen Ratschläge zu halten… Freuen tut’s mich dennoch!

Besonders spannend fand ich Text und Diskussion zum Beitrag Lektion in Demut. Eine der Damen weilt wohl derzeit in Buenos Aires und versorgt die Leser mit interessanten Eindrücken vom Tango-Mekka. In vorliegenden Fall berichtet sie von einer dortigen Tangostunde:

„Keine Begrüßung. Frauen auf die eine Seite, Männer auf die andere. Nachmachen, was die Lehrer machen, lautet die unausgesprochene Vorgabe. Die Lehrer stehen vor uns – sie vor den Frauen, er vor den Männern. Beide drehen und verzieren, was das Zeug hält. Wir sollen es ihnen gleich tun. Keine Chance.“

Dies jedoch geht dem Lehrpersonal nicht nur metaphorisch am Hintern vorbei. Ebenso bei den nachfolgenden, recht komplizierten Schrittsequenzen, die sie ein paar Mal vorturnen. Dann lassen sie die Schüler mehr oder weniger allein, damit diese es sich selber erarbeiten: „Alte Schule“.

Fazit der Autorin: „Als die Stunde zu Ende ist, haben wir vermutlich nicht wahnsinnig viel Tango gelernt, dafür aber Demut: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘“

Bei den Kommentaren bricht sich natürlich das in der hiesigen Tangoszene stets abrufbare Empörungspotenzial freie Bahn:

„Zu diesem Unterricht gehe ich nie mehr wieder hin. Wäre Zeit- und Geldverschwendung.“

„Wobei ich es irgendwie verstehen kann, wenn professionelle Showtänzer (…) die Kundschaft als Bewegungslegastheniker sehen, welche die Dollars besser in Tickets ihrer Shows investieren sollten.“

„Bei unseren Tangokursen (…) würden wir ein Lehrerpaar, das so unterrichtet, exakt zweimal einladen: Zum ersten und zum letzten Mal.“

„Das Tangolehrerpärchen zeigt hochkomplexe Sequenzen und das Publikum steht staunend herum und versucht hilflos, irgendetwas nachzumachen.“

„So einen Unterricht würde ich noch während der Stunde verlassen, nicht ohne mir vorher für alle sichtbar den Eintritt zurückerstatten zu lassen.“

Interessant finde ich nun die Reaktion der Autorin darauf:

„Manchmal tendieren Schüler nach meiner Erfahrung dazu, die Verantwortung für den Lernprozess stark an den Lehrer abzugeben. ‚Wenn ich’s nicht kann, hat er’s mir nicht gut beigebracht.‘ Pädagogische Konzepte, die den Schüler sehr ‚betüdeln‘, bestärken das. Bei dem in dem Artikel geschilderten Unterricht trägt der Schüler eine viel größere Verantwortung, die er annimmt, sofern er sich auf diesen Unterricht einlässt. Er muss sich vieles selbst erschließen oder ertüfteln. Dinge, die so gelernt werden, sind erwiesenermaßen auch fester verankert.“

Das erinnert mich an zwei weit zurückliegende, aber bleibende Eindrucke aus meinem eigenen Tangounterricht:

Das Lehrerpaar, beim dem wir die „Basics“ kennenlernten, zerlegte – methodisch und didaktisch sicherlich sehr gewandt – den „Stoff“ in mundgerechte Häppchen, setzte sie zusammen und ließ uns in paramilitärischer Disziplin eine „Folge“ abmarschieren – öfters unterbrochen von schrillen Aufschreien der Frau Instruktorin, wenn sie „Falsches“ wahrnahm. Motto: „An Schritt 5 der Basse schließen wir jetzt noch eine Zusatzfigur an.“

Auf Anfänger wirkt das sicherlich beruhigend: alles gut erklärt, überschaubar und hundert Mal durchexerziert. Wäre ich dort geblieben, würden wir heute vielleicht auf Encuentros tanzen…

Mit der Zeit aber nervten uns jedoch die strikten Vorgaben, und wir begannen, ein wenig zu improvisieren – schließlich waren wir heimlich auch auf anderen Veranstaltungen (was offiziell verpönt war) und hatten uns da und dort etwas abgeschaut. Ich stieg aus einem laufenden Kurs aus, als mir die Tangolehrerin einmal sagte, die Variation, die ich da tanze, gebe es so nicht.

So landeten wir bei Andi, einem in der Tangoszene völlig unbekannten Ausbilder, der eine total andere Lehrmethode benutzte: Er ließ uns zunächst zirka eine Viertelstunde eintanzen, während er die Getränke brachte, sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte und uns zusah. Dabei fiel ihm wohl die „Figur“ ein, welche er uns nachher mit einer Schülerin vorführte. Für mich schon das erste Wunder: Die nichtsahnende Frau (es war auch nicht immer dieselbe) tanzte das brav mit, es funktionierte! Wir verstanden dennoch nur „Bahnhof“ – auf unser Flehen hin ließ er sich erweichen, das Ding noch zwei- oder dreimal zu zeigen. Dann entschwand er, um draußen eine zu rauchen.

Wir waren also auf uns selbst gestellt, es entstanden Diskussionen, irgendeiner kam auf etwas, andere wollten es sehen, die Partner wurden probehalber gewechselt. Das zweite, noch größere Wunder: Wenn Andi dann nach zwanzig Minuten zurückkam, tanzten fünf Paare fünf irgendwie ähnliche, aber nicht gleiche Folgen!

Natürlich wollte jeder vom Lehrer wissen: „Stimmt das jetzt?“ Seine Standardantworten: „so ungefähr“ oder „kann man auch machen“. (Heute vermute ich: So ganz genau wusste er selber nicht mehr, was er da vorgetanzt hatte.) Anschließend gab es dann zusätzlich den einen oder anderen Tipp, oder es fielen ihm noch mehrere Varianten ein. Ansonsten: Üben bis zum Umfallen!

Anfangs war das ein hartes Brot, aber mit der Zeit kapierten wir, dass es Andi überhaupt nicht um die genauen „Figuren“ ging, sondern um Material, mit dem er unsere tänzerische Kreativität anregen und die  technischen Fähigkeiten verbessern wollte.

Das war der Beginn unserer Reise in Richtung Improvisation. Den Rest besorgten wir uns auf vielen Milongas.

Einen anderen Unterschied halte ich für aufschlussreich: Während unserem ersten Lehrerpaar tangomäßig damals eine ganze Großstadt zu Füßen lag, waren bei Andi ein Dutzend Schüler schon viel. Der Deutsche möchte halt klare Regeln...

Tja, der Tangoadept hierzulande erwartet, dass ihm alles häppchenweise auf dem Silbertablett serviert wird, er erfährt, wie das alles genau geht, was „richtig“ oder „falsch“ ist – und wenn nach dem Unterricht eine Milonga stattfindet, geht er nach Hause – das „Lernen“ ist ja bereits beendet… Üben, sich anstrengen, rumbasteln, selber auf etwas kommen, seinen eigenen Stil entwickeln? Sich gar dem Tango unter Ausschaltung des Großhirns emotional und sensitiv nähern? Den Schüler nicht zum passiven Objekt degradieren?

Forget it! Das resultiernde, uniforme Herumgeschiebe kann man auf jeder Milonga besichtigen.

Insofern amüsiere ich mich königlich, wenn ich mir vorstelle, wie in der argentinischen Unterrichtsstunde deutsche Wallfahrer/innen herumtorkelten, wenn man sie mal zwang, allein auf einem Bein zu stehen und mit dem anderen Verzierungen zu üben. Und natürlich nahm man an, man müsse die Folgen nun genauso exekutieren wie vorgezeigt. Grandios!

Glücklicherweise kenne ich noch etliche Frauen, die Tango vor mehr als zehn Jahren gelernt haben und daher meist wissen, dass sie alleine stehen und sich bewegen sollten. Die Mehrzahl der heutigen Paare klammert sich aneinander fest, um nicht umzufallen. Der Tanz glückt dann nur auf vier Füßen. Es lebe die „enge Umarmung“! Dass der Körperkontakt ausschließlich zur gegenseitigen Verständigung in Form einer zarten Bewegungssprache dienen soll, ist weitgehend – jedenfalls in der Praxis – in Vergessenheit geraten.

Und gar noch allein üben, selber experimentieren, kreativ am eigenen Stil arbeiten? Nein, das wäre ja kein „normales Tanzen“

Daher finde ich den eingangs geschilderten Unterricht so schlecht nicht. Demut sollte jedoch nicht die Folge sein. Die Frage ist eher, ob man dafür etwas bezahlen muss. Es gäbe nämlich eine einfachere Methode, der ich eine Vielzahl meiner Bewegungen und Tanzweisen verdanke: Auf einer Milonga mit guten Tänzern (natürlich eine herbe Einschränkung), statt zu quatschen, aufmerksam interessante Paare beobachten und dann klauen, was das Zeug hält. Den Milonga-Eintritt hat man ja eh entrichtet, und gucken kostet nichts!

Ein praktischer Test: Jetzt sofort den Teppich aufrollen, das folgende Video starten und dazu allein (oder auch zu zweit) improvisieren – es müssen nicht mal Tangoschritte sein, das Stück ist auch kein Tango.

Und wenn Ihnen zu dieser hinreißenden Nummer von Nat King Cole nichts einfällt, sage ich Ihnen etwas, das Ihnen Ihr Tangolehrer leider verschweigt:

Suchen Sie sich ein anderes Hobby!



Hier noch der Originaltext:

https://berlintangovibes.com/2018/04/02/lektion-in-demut/

P.S: Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Doch, ich kann auch normal tanzen"! Macht nur keinen Spaß...

Kommentare

  1. Nach meiner Erfahrung macht's die Mischung. Eine konkrete Figur ist immer auch Mittel zum Zweck, um das Basisverstehen voranzubringen. Es kann dann sein, daß man zwar die Zielfigur noch nicht gut hinbekommt, aber plötzlich was ganz anderes besser kann. Und das Lernen verläuft nicht linear - eine Weile geht nichts voran und dann platzt irgendein Knoten. Skills sind sowieso auch unterschiedlich - ich selbst kann Moves nicht einfach kopieren, kenne auch einige, denen das ähnlich geht. Aber dann gibts eben auch die, die das können und einen Ablauf dann sozusagen von innen verstehen.Jedenfalls würde ich sagen, eine Kombi von Move-Neuland und Basics funktioniert am besten.

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  2. Klar macht es die Mischung. Ich habe übrigens selten Moves kopiert, sondern eher "Bewegungsideen", und sie dann mit meinen Mitteln bearbeitet, meinen Fähigkeiten angepasst. Manchmal war es auch nur ein "Tanzgefühl", das ich übernahm. Wenn man sucht, gibt es eine Vielfalt von Möglichkeiten.

    Die "Dauerbestrahlung" durch Lehrende kannte ich vom Standardtanz zur Genüge, danach sehnte ich mich beim Tango wahrlich nicht!

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  3. So wie es verschiedene Unterrichtsstile, so gibt es auch verschiedene "Lernstile". Ich für meinen Teil habe zu Beginn meiner "Tangokarriere" strukturiertes Vorzeigen von Figuren bevorzugt, nun bin ich eher beim freien Lernen angelangt. Das heißt auch der Lernstil kann sich im Ablauf ändern. Was meiner Meinung nach viel zu sehr vernachlässigt wird, welche Bewegungsmuster zu welchen Melodien und Musikphrasen passen. Gestern tanzte ich etwa einmal zu den begleitenden Bandoneons (zackig), dann wieder zu den schmeichelnden Geigen (rund und giroartig).

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    1. Klar muss man als Anfänger stärker "geführt" werden. Aus meiner Sicht verpasst man jedoch oft den Zeitpunkt, den Schülern mehr Freiheiten zu geben, ja sie einfach "ins kalte Wasser zu werfen".

      Leider ist das heute sehr ungewohnt, und viele Lernende würden dann zu Lehrern rennen, die ihnen weiterhin alles hinterhertragen.

      Und jeder lernt anders. Ich find dann nur manchmal den Begriff "Improvisationstanz" lustig.

      Ja, und das Eingehen auf die Musik steht über allem. Freilich braucht man dazu Bewegungsabläufe (nicht: "Figuren") welche durch tausende Male Übung ohne Nachdenken funktionieren - so wie jeder Musiker.

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  4. Ich befürworte zwar schon den "traditionellen" Tango, bin aber trotzdem der Meinung, dass man nicht einfach nur "nachtanzen" sollte, sondern eben den eigenen Stil und die eigene Tanzform finden und entwickeln, so gesehen sind wir hier tatsächlich absolut einer Meinung, lieber Gerhard.

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    1. Liebe Laura,
      vielen Dank für den Ausgangstext, er war ein sehr guter Anlass, mich mit dem Thema zu beschäftigen!

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