Milonguita



Gestern las ich den wunderschönen Satz einer Dame, welche in der Tangoszene bestens vernetzt und für ihre lupenrein traditionelle Einstellung zum argentinischen Tango bekannt ist: Als frühere Vorsitzende eines Tangovereins gelang es ihr, diesen rigoros auf altbackene Spur zu trimmen; sie veranstaltet auch Tangoreisen und nimmt offenbar an Encuentros teil.

Auf Facebook wollte sie nun – natürlich auf Spanisch – ihre Anerkennung für eine solche Veranstaltung, die sie wohl kürzlich besuchte, zum Ausdruck zu bringen und schrieb an die Veranstalter des „Encuentro con Milongueros de visita en Alicante“:
„Muchissimas gracias para organisar esta Milonguita para nosotros!!!“ 

Nach meinen nicht so weitgereisten und eher dem Kleinem Latinum geschuldeten Kenntnissen dieser Sprache wollte sie offenbar damit sagen:
„Meinen größten Dank dafür, dass ihr diese kleine Milonga für uns organisiert habt.“ (https://www.facebook.com/events/720956898007563/)

Als Laie will ich mich in die hispanischen Feinheiten nicht einmischen – beispielsweise, ob es nicht doch „por“ statt „para“ heißen und man „organizar“ nicht mit „z“ schreiben müsste.

Ein Wort allerdings sollte uns glühenden Anhängern des Kulturguts vom Rio de la Plata nun aber schon geläufig sein. Bie diesem handelt es sich eher nicht um eine „kleine Milonga“ (müsste „pequeña milonga“ heißen): „Milonguita“.

Den betreffenden Lunfardo-Ausdruck kann man in Wörterbüchern dieser Unterschichtssprache leicht nachschlagen:
Milonguita: Mujer de vida aireada“
Eine Frau mit einem „luftigen Leben“ also. Warum? Nun, weil das Mädchen halt… ziemlich leicht ist!

Ausführlicher erklärt es diese Quelle (http://www.cosmopolis.ch/cosmo10/Tango.htm):
„Zwischen Mythologie und bitterer Realität bewegen sich die drei Archetypen des Tango und des Arrabal: die aus Europa verschleppte Prostituierte und Bardame, die Milonguita, der Gaucho ohne Pferd und Macho kreolischer oder europäischer Herkunft, der Compadrito, sowie der verlachte (italienische) Einwanderer, der Cocoliche, eine Verballhornung der italienischen Verben cocollare (verhätscheln, verwöhnen) und cocolarsi (sich amüsieren).“

Daher heißt der oben zitierte Satz jener Verehrerin der Tangotraditionen also:
„Meinen größten Dank dafür, dass ihr dieses leichte Mädchen für uns organisiert habt.“

O je, hoffentlich kriegt sie da bei der nächsten Anmeldung keine Probleme…

Höchst amüsant finde ich es, dass mir die Dame dereinst auf Facebook (im Rahmen des Cabeceo-Geschimpfes auf der Seite von Theresa Faus) attestierte: Schade um die Zeit und die Nerven... warum fehlt Einigen einfach mal ‚nur‘ der Respekt und die Achtung vor dem, was war und auch Gottseidank bei vielen Tänzern noch ‚ist‘ im Tango. Nämlich die Historie…“

Daher, liebe Freunde des artgerechten Tango, möchte ich euer Wissen um die Wurzeln unseres geliebten Tanzes ein wenig aufstocken: Vor knapp hundert Jahren ging es nämlich auf den Milongas ziemlich hoch her (oder tief…) – da konnte man sie noch unschwer von Treffen der Kolpingfamilie unterscheiden!

Das ließe sich bereits einem Tango aus dem Jahr 1920 entnehmen – vorsichtshalber übersetze ich ihn lieber für euch:

Milonguita

Musik: Enrique Delfino
Text: Samuel Linning

Te acordas, Milonguita? Vos eras
la pebeta mas linda'e Chiclana;
la pollera cortona y las trenzas... 
y en las trenzas un beso de sol...

Y en aquellas noches de verano, 
que soñaba tu almita, mujer, 
al oir en la esquina algun tango 
chamuyarte bajito de amor?

Estercita, 
hoy te llaman Milonguita, 
flor de noche y de placer, 
flor de lujo y cabaret.

Milonguita, 
los hombres te han hecho mal 
y hoy darias toda tu alma 
por vestirte de percal.

Cuando sales por la madrugada, 
Milonguita, de aquel cabaret, 
toda tu alma temblando de frio, 
dices:Ay, si pudiera querer!...

Y entre el vino y el ultimo tango 
p'al cotorro te saca un bacan... 
Ay, que sola, Estercita, te sientes! 
Si lloras...dicen que es el champan!
Erinnerst du dich, Milonguita? Du warst 
das hübscheste Mädchen aus Chiclana; 
der Minirock und die Zöpfe… 
und auf den Zöpfen ein Kuss der Sonne...

Und in diesen Sommernächten, 
wovon träumte deine kleine Seele damals, Mädchen, 
während sie an der Ecke einen Tango hörte, 
der dir sanft von Liebe flüsterte?

Kleine Ester, 
heute nennen sie dich Milonguita, 
die Blume der Nacht und des Vergnügens, 
Blume des Luxus und des Kabaretts.

Milonguita, 
die Männer haben dich schlecht behandelt, 
und heute würdest du deine ganze Seele dafür hergeben,
dich in feinen Baumwollstoff zu kleiden.

Wenn du am frühen Morgen herauskommst, 
Milonguita, aus diesem Kabarett, 
zittert deine ganze Seele vor Kälte, 
und du sagst: „Ach, könnte ich doch lieben…"

Und zwischen dem Wein und dem letzten Tango 
zieht dich ein reicher Kerl auf seine Kissen... 
O, wie einsam fühlst du dich, kleine Ester! 
Wenn du weinst, so sagen sie, es kommt vom Champagner!

Und so klingt das dann (natürlich in traditionellem Stil):


P.S. Der Dramatiker George Bernard Shaw sagte zum Thema übrigens:
Tradition will accustom people to any atrocity – Die Tradition gewöhnt die Menschen an jede Scheußlichkeit.“
Und als er bei einer Rede einmal von irischen Nationalisten gestört wurde, drohte er ihnen an, auf Gälisch weiterzusprechen…

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